Brennende Füße? Kribbeln in den Zehen? Taubheitsgefühle?
Polyneuropathie (PNP) bedeutet: Mehrere Nerven außerhalb von Gehirn und Rückenmark sind geschädigt. Sie gehört zu den häufigsten Krankheiten des Nervensystems – etwa 3 % der Menschen sind betroffen, ab 55 nimmt das Risiko deutlich zu. Menschen mit Diabetes sind besonders gefährdet: Mehr als jede dritte betroffene Person entwickelt im Laufe des Lebens eine Neuropathie. Oft beginnt alles unauffällig: Kribbeln, brennende Fußsohlen oder Taubheitsgefühle wirken harmlos, stören aber spürbar den Alltag. [1][2][3][4]
👉 Warum diese Beschwerden ernst genommen werden sollten – und welche Ursachen dahinterstecken, erfährst Du hier.
Was ist Polyneuropathie?
Unser Nervensystem funktioniert wie ein Telefonnetz zwischen Gehirn und Körper. Es gibt motorische Nerven (für Bewegung), sensible Nerven (für Empfindungen wie Berührung oder Schmerz) und autonome Nerven (für Abläufe wie Verdauung oder Herzschlag, die automatisch laufen).
Bei einer Polyneuropathie sind gleich mehrere dieser „Leitungen“ gleichzeitig gestört. Zum Vergleich:
- Bei einer Mononeuropathie ist nur ein einzelner Nerv betroffen – etwa wie bei einem eingeklemmten Nerv in der Hand.
- Bei einer Radikulopathie ist eine Nervenwurzel geschädigt, oft durch einen Bandscheibenvorfall.
Die Polyneuropathie hingegen ist eine generalisierte Erkrankung: Sie kann viele Nerven gleichzeitig betreffen, sehr unterschiedliche Beschwerden auslösen und verläuft bei jedem Menschen etwas anders. [5][6][7][8]
Frühe Warnzeichen erkennen
Erste Anzeichen einer Polyneuropathie sind oft feine Veränderungen im Gefühl. Viele Betroffene spüren ein Kribbeln oder beschreiben es als „Ameisenlaufen“. Häufig treten auch brennende Fußsohlen auf – im Fachjargon „Burning Feet“ genannt. Manche Menschen berichten, es fühle sich so an, als würden sie unsichtbare Socken tragen.
Typisch ist auch, dass sich die Beschwerden nachts verstärken, wenn man zur Ruhe kommt. Ein weiteres wichtiges Signal ist der Verlust des Vibrationsempfindens: Wer eine vibrierende Oberfläche – etwa den Handywecker oder eine vibrierende Haltestange – nicht mehr deutlich wahrnimmt, sollte das ernst nehmen. [9][10]
Die Sprache der Nerven – Schmerzcharakter
Neuropathische Schmerzen sind oft besonders quälend und schwer zu beschreiben. Sie können als Brennen, als plötzliches elektrisches Einschießen oder wie kurze Stromstöße empfunden werden. Schon leichte Reize, die eigentlich nicht weh tun sollten – etwa das Gewicht einer Bettdecke oder ein sanfter Luftzug – können Schmerzen auslösen. Ärzte nennen das Allodynie.
Wenn ein ohnehin schmerzhafter Reiz als übertrieben stark empfunden wird, spricht man von Hyperalgesie – ein kleiner Pieks fühlt sich dann wie ein tiefer Stich an. Solche Fehlsignale sind nicht nur unangenehm: Sie rauben vielen Betroffenen den Schlaf und machen den Alltag erheblich schwerer. [11][12][13][14]
Symptome: sensorisch, motorisch, autonom
Eine Polyneuropathie kann sich sehr unterschiedlich äußern – je nachdem, welche Nerven betroffen sind:
Sensorisch (Gefühlssinn): Viele Betroffene spüren Berührungen, Schmerzen oder Temperaturen nur noch abgeschwächt. Auch der sogenannte Lagesinn – also das Gefühl dafür, wo sich die Füße oder Hände im Raum befinden – ist gestört. Typisch sind auch abgeschwächte Reflexe, besonders an der Achillessehne.
Motorisch (Bewegung): Es kann zu Muskelschwäche und sichtbarem Muskelabbau kommen. Häufig entwickelt sich eine Fußheberschwäche – die Betroffenen können den Fuß beim Gehen nicht mehr richtig anheben, was das Stolper- und Sturzrisiko erhöht.
Autonom (unbewusste Körperfunktionen): Da das autonome Nervensystem beteiligt sein kann, treten manchmal Kreislaufprobleme beim Aufstehen, Verdauungsstörungen, Blasenprobleme oder verändertes Schwitzen auf. [15][5]
Wie Polyneuropathie den Alltag verändert
Viele Betroffene berichten, dass sie sich im Alltag unsicher auf den Beinen fühlen. Das liegt nicht nur am fehlenden Gefühl in den Füßen, sondern auch an der verminderten Muskelkraft – beides zusammen erhöht das Sturzrisiko deutlich. Treppen oder unebene Wege werden so schnell zur Gefahr.
Auch kleine Handgriffe werden schwieriger: Knöpfe schließen, ein Glas festhalten oder Kleingeld aufheben erfordert plötzlich volle Konzentration. Dazu kommen oft nächtliche Schmerzen, die den Schlaf rauben. Wer schlecht schläft, fühlt sich am nächsten Tag erschöpft, gereizt und hat weniger Energie – ein Kreislauf, der die Lebensqualität zusätzlich belastet. [17][18]
Warum werden Nerven geschädigt? – Häufige Ursachen
Diabetes – Typ 1 und Typ 2 im Überblick
Diabetes mellitus ist die häufigste Ursache für Polyneuropathie.
- Bei Typ 1 Diabetes, einer Autoimmunerkrankung, entstehen Nervenschäden meist erst nach mehreren Krankheitsjahren – vor allem, wenn der Blutzucker nicht dauerhaft gut eingestellt ist.
- Bei Typ 2 Diabetes beginnen Schädigungen oft schon früh: Dauerhaft hohe Blutzuckerwerte und Insulinresistenz greifen die feinen Nervenfasern und ihre Blutgefäße an – vergleichbar mit verstopften Wasserleitungen, durch die der „Strom“ der Nerven schlechter fließt.
Studien zeigen: Bis zu 60 % aller Diabetiker entwickeln im Laufe ihres Lebens Anzeichen einer Nervenschädigung. Selbst bei Prädiabetes – also leicht erhöhten Blutzuckerwerten – lassen sich bereits bei fast jedem Vierten erste Auffälligkeiten nachweisen.
Deshalb ist ein regelmäßiges Screening so wichtig:
- Bei Typ 2 Diabetes ab Diagnosestellung jährlich.
- Bei Typ 1 Diabetes ab dem 5. Krankheitsjahr, ebenfalls mindestens jährlich.
So können Nervenschäden rechtzeitig erkannt und ihr Fortschreiten gebremst werden. [1][2][27]
Was passiert bei erhöhtem Blutzucker?
Dauerhaft zu viel Zucker im Blut (Fachwort: Hyperglykämie) setzt die Nerven und ihre kleinsten Blutgefäße unter Stress. Vereinfacht gesagt, passieren vier Dinge:
- Zucker lagert sich an Proteine an → es entstehen sogenannte AGEs („Zucker-Eiweiße“). Diese verändern Gewebe und machen es starrer – auch in den Nerven.
- Der Nervenstoffwechsel kippt → Zucker wird in Nebenwege umgeleitet (u. a. Polyolweg). Dabei entstehen belastende Zwischenprodukte, die Nervenenden reizbar machen.
- Freie Radikale nehmen zu (oxidativer Stress) → sie wirken wie „chemischer Rost“ und schädigen Nervenstrukturen.
- Die kleinen Blutgefäße der Nerven (Mikroangiopathie) werden in Mitleidenschaft gezogen → die Nerven werden schlechter versorgt (weniger Sauerstoff/Nährstoffe).
Das Zusammenspiel führt auf Dauer zu Nervenfaserschäden – zuerst oft an den längsten Nerven (Zehen, Füße), weshalb die Beschwerden dort beginnen. [28]
Alkohol – mehr als nur Leberschäden
Ein übermäßiger Alkoholkonsum ist für rund ein Fünftel aller Polyneuropathien verantwortlich. Alkohol selbst schädigt die Nerven direkt – zusätzlich verhindert er, dass wichtige B-Vitamine (vor allem B1 und B12) richtig aufgenommen werden. Diese Vitamine sind das „Baumaterial“ der Nerven. Fehlt es daran, werden die Nerven anfälliger und erholen sich schlechter. [15][18]
Vitaminmangel & Organstörungen
Auch Mangelzustände können Nervenschäden begünstigen. Besonders ein Defizit an Vitamin B12 oder B1 wirkt sich stark auf die Nervengesundheit aus – beide sind entscheidend für die Weiterleitung von elektrischen Signalen im Nerv.
Daneben können auch Organerkrankungen eine Rolle spielen:
- Nieren- oder Leberinsuffizienz belasten den Stoffwechsel und stören die Entgiftung.
- Schilddrüsenstörungen beeinflussen den gesamten Energiehaushalt – auch den der Nerven.
Diese Faktoren können eine Neuropathie auslösen oder bestehende Schäden verschlimmern. [19][20][21][5]
Weitere Ursachen
Neben Diabetes, Alkohol und Vitaminmangel gibt es noch eine Reihe anderer Auslöser:
- Autoimmunerkrankungen wie die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), bei der das Immunsystem die eigenen Nerven angreift.
- Infektionen wie Borreliose oder HIV, die die Nerven direkt schädigen können.
- Genetische Faktoren, etwa die vererbte Krankheit Charcot–Marie–Tooth, die häufig schon im jungen Erwachsenenalter auffällt.
- Krebserkrankungen (paraneoplastisch), bei denen der Körper im Rahmen der Tumorerkrankung Nerven angreift.
In etwa einem Viertel der Fälle lässt sich jedoch keine eindeutige Ursache finden – Ärzte sprechen dann von einer idiopathischen Polyneuropathie. [22][23][24][25]
Verschiedene Typen der Polyneuropathie
Dünne vs. dicke Nervenfasern (Small/Large Fiber)
Unsere Nerven bestehen aus unterschiedlich dicken Fasern – und jede hat ihre Aufgabe:
- Dünne Fasern leiten vor allem Schmerz- und Temperaturempfindungen. Sind sie geschädigt, kommt es zu Brennen, Überempfindlichkeit auf Berührungen (Allodynie) oder Störungen beim Wahrnehmen von Hitze und Kälte.
- Dicke Fasern sind zuständig für Berührungen, Vibrationen und Bewegungsabläufe. Werden sie geschädigt, entstehen Gangunsicherheit und ein höheres Sturzrisiko, weil das Gefühl für die Körperlage nachlässt. Auch Reflexe – zum Beispiel an der Achillessehne – können deutlich abgeschwächt sein. [31][32]
Verlauf: langsam oder akut – wann zur Ärztin/zum Arzt?
Viele Formen der Polyneuropathie entwickeln sich langsam über Jahre – die Beschwerden beginnen oft in den Füßen und nehmen allmählich zu. Doch es gibt auch akute Verläufe, die sich innerhalb von Tagen oder wenigen Wochen deutlich verschlechtern. Typische Warnzeichen sind:
- plötzliche Muskelschwäche,
- Lähmungserscheinungen,
- oder wenn die Symptome nur auf einer Körperseite auftreten.
👉 In solchen Fällen sollte man sofort eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen. Dahinter können seltene, aber ernsthafte Ursachen stecken – zum Beispiel akute, immunvermittelte Formen wie das Guillain-Barré-Syndrom. [25][24]
Früherkennung & Screening
Frühzeichen wie Kribbeln, Brennen oder Taubheit solltest du nicht ignorieren – je eher eine Polyneuropathie erkannt wird, desto besser lässt sich ihr Fortschreiten bremsen. [27]
Für Menschen mit Diabetes gilt: jährliches Screening – bei Typ 2 ab der Diagnose, bei Typ 1 ab dem 5. Krankheitsjahr. [27]
Die Basis sind einfache Tests in der Praxis: ein Arztgespräch (Anamnese), der Drucktest mit dem Monofilament, das Vibrationsgefühl mit der Stimmgabel und die Reflexe. Bei Auffälligkeiten folgen weiterführende Untersuchungen. [27][5]
Im nächsten Beitrag zeigen wir, welche Behandlungsmethoden wirklich helfen – von Ursachenmanagement über Bewegung bis hin zur Kältetherapie als sanfter Option zur Linderung.
FAQ
Sind Nervenschäden heilbar?
Reversible Ursachen (z. B. Vitaminmangel) lassen sich behandeln. Bei diabetesbedingter Neuropathie kann eine gute Stoffwechselführung das Risiko senken und den Verlauf bremsen; bereits geschädigte Nerven erholen sich jedoch nur begrenzt – frühes Handeln ist entscheidend. [27][5]
Wie wird Polyneuropathie diagnostiziert?
Aus Anamnese und klinischer Untersuchung (Monofilament, Stimmgabel, Reflexe) plus – falls nötig – weiterführenden Tests (z. B. Nervenleitgeschwindigkeit, Small-Fiber-Diagnostik). [5]
Hilft Bewegung bei Polyneuropathie?
Ja. Studien zeigen Vorteile für Symptome, Gleichgewicht, Mobilität und Sturzrisiko-Marker; Bewegung unterstützt außerdem die Blutzuckerkontrolle. [34][35]
Wann sollte ich zum Arzt?
Bei anhaltendem Brennen/Kribbeln/Taubheit, Gangunsicherheit, rascher Verschlechterung, asymmetrischen oder motorischen Ausfällen sowie bei Wunden/Ulzera an den Füßen. [25][5]
Weiterlesen: Behandlungsmethoden bei Polyneuropathie
Quellen
▼ Quellen anzeigen
- [1] RKI – Diabetes-Surveillance: Diabetische Polyneuropathie
- [2] diabetesDE – Mehr als jeder dritte Mensch mit Diabetes entwickelt eine Neuropathie
- [3] Gesund.bund.de – Polyneuropathie
- [4] Pflege.de – Polyneuropathie
- [5] Uniklinikum Dresden – Diagnostik Polyneuropathien (S1-Leitlinie)
- [6] MSD Manuals (DE) – Polyneuropathie
- [7] DocCheck Flexikon – Radikulopathie
- [8] BARMER – Polyneuropathie
- [9] Springer Medizin – Polyneuropathie im Alter
- [10] AOK – Polyneuropathie
- [11] Small Fiber Neuropathie Schweiz – Überblick
- [12] AMBOSS – Polyneuropathie
- [13] Bitzer-Sporttherapie – Lebenserwartung & Polyneuropathie
- [14] CME-Kurs – Update Diabetische Neuropathie
- [15] Neurologen- & Psychiater im Netz – Alkohol & Nervenschäden
- [17] NAI – Diabetes & diabetische Neuropathie: Zahlen & Fakten
- [18] DocCheck – Alkoholische Polyneuropathie
- [19] IMD Berlin – Vitamin-B12-Mangel
- [20] Labor München Zentrum – Vitamin B12/MMA/Holo-TC
- [21] DocCheck – Vitamin-B12-Mangel
- [22] Orphanet – CIDP
- [23] Charité – Immunneuropathien
- [24] MSD Manuals (DE) – Guillain-Barré-Syndrom
- [25] Springer Medizin – Red Flags
- [27] ADA Standards of Care 2025 – Neuropathie & Fußversorgung
- [28] Frontiers (2023) – Mechanismen der diabetischen Neuropathie
- [29] NHS England – Diabetes Foot Care (Temperatur/Hitzemeidung)
- [30] Diabetes UK – Fußpflege (Temperaturcheck, Pflege)
- [31] DocCheck – Small-Fiber-Neuropathie
- [32] Sachau J. et al. (2022) – Small-Fiber-Neuropathien
- [34] Sports Medicine Open (2025) – Exercise bei DPN (Review)
- [35] BMC Neuroscience (2024) – Multisystem-Übungen (RCT)
